Wir laden ein zur Ehrung von Wladimir Gall am 30. April 2020, 16 Uhr an der Gedenktafel im Durchgang zur Zitadelle Spandau!
Er war der Parlamentär der Sowjetarmee, als in den letzten schweren Kämpfen Spandaus auch die Entscheidung zu treffen war, Sturm auf die Zitadelle oder Verhandlungen mit den dort verschanzten Deutschen! Sein Mut und der Mut des begleitenden Majors Wassili Grischin ist es zu verdanken, dass Menschen und Gebäude unversehrt davon gekommen sind.
Einen kleinen Eindruck seines Lebens erhalten Sie hier: (Auszüge aus einer Rede, die anlässlich seines 100. Geburtstags im Jahr 2019 im Beisein seiner Enkeltochter und des Urenkels in der Zitadelle gehalten wurde)
Wladimir war gerade 22 Jahre alt, als er sein Germanistikstudium in Moskau mit einem Diplom beendet hatte. Es war der 22. Juni 1941 und am selben Tag hatte „das faschistische Deutschland heimtückisch und hinterlistig, ohne Kriegserklärung, die Sowjetunion überfallen“ – wie er in seinem Buch: ‚Mein Weg nach Halle‘ schreibt. Er schreibt auch, dass dieser Tag „wie ein scharfes Messer unser ganzes Leben von dem trennte, was nachher kam. Jede Begebenheit, jede Tatsache beurteilten wir nunmehr vom Standpunkt aus, ob es vor oder nach diesem Tage war.“
Seine parlamentäre Arbeit erfuhr am 1. Mai 1945 ihren Höhepunkt – und das in Spandau! Hitler hatte sich am Vortag das Leben genommen, der Reichstag war besetzt, Spandau nach schweren Kämpfen eingenommen. Die Zitadelle diente als Zuflucht für hunderte Alte, Frauen und Kinder, gehalten von einer Truppe aus Volkssturm, Wehrmacht und uniformierten Wissenschaftlern, allesamt Offiziere des „Heeres-Gasschutz-Laboratiums“.
Die Rote Armee hatte vor, ein Blutbad zu vermeiden. Versuche, die Besatzung durch Lautsprecherdurchsagen zur Übergabe zu bewegen, waren aber gescheitert. Und so standen die Parlamentäre Major Grischin und Hauptmann Gall mit weißer Fahne vor dem Tor. Im Film „Ich war 19“ von Konrad Wolf sind die folgenden Stunden vor und in diesem Gebäude nachvollziehbar festgehalten worden – und vieles mehr aus den letzten Kriegstagen. In den Kriegstagebüchern Konrad Wolfs, erst 33 Jahre nach dessen Tod 2015 veröffentlicht, ist auch der Bericht von Gall zu lesen. Daraus ist folgender Ausschnitt: (Konrad Wolf, „Aber ich sah ja selbst, das war der Krieg“ Seite 261 und 262)
„… Aber die Festung schweigt. Daraufhin entscheidet Grischin, am Abend mit mir zusammen als Parlamentäre zur Festung zu gehen. Unsere Waffen und unsere Parteidokumente hinterlassen wir bei unseren Genossen. Ich binde ein Stück weißes Tuch an einen Stock, wir verabschieden uns und wollen schon losgehen, da trifft mich ein kritischer Blick unseres Chefs: ‚So können Sie unmöglich gehen, Gall! Schauen Sie mal Ihren Mantel an!‘ Unser Chef ist eitel, aber in diesem Fall muss ich ihm Recht geben. Meinem Mantel sieht man zwei lange Jahre Krieg weiß Gott an. Wir finden einen Ausweg! Piskanowski reicht mir seinen Mantel mit den Worten: ‚Nimm meine Churchill-Liebe!‘ Sein Mantel ist aus bestem englischen Stoff, er entstammt einer Lieferung unserer Verbündeten. Er ist mir zwar zu groß, aber Piskanowski hilft mir mit seinem nagelneuen Lederriemen und ich sehe wie ein Generalstabsoffizier aus. Grischin ist zufrieden und wir beide machen uns auf den Weg. Wir müssen durch einen kleinen Forst, dann taucht die Festung als gewaltige schwarze Silhouette am Abendhimmel auf. Ich bin aufgeregt, schwenke mechanisch die weiße Fahne und weihe Grischin in meine ‚historischen Kenntnisse‘ ein: im Geschichtsunterricht der Universität war auch von der Spandauer Festung die Rede gewesen. Sie wurde Mitte des XII. Jahrhunderts durch den Markgrafen Albrecht errichtet, den Begründer der Mark Brandenburg. Der war ein gefürchteter Räuber fremder Besitzungen und hatte deshalb den Beinamen: ‚Der Bär‘. Die Festung war deshalb acht Jahrhunderte lang ein Symbol der Aggressionen gegen den europäischen Osten. Eigentlich rede ich nur, um meiner Erregung Herr zu werden, und ich weiß auch nicht, ob Grischin mir überhaupt zuhört. Ab und zu sagt er: ‚Interessant, sehr interessant…‘
Spandau ist eine Festung, wie sie im Buche steht: mit Ecktürmen, einer hohen Mauer, Wassergraben und Zugbrücke. Über die Brücke erreichen wir das massive Tor, vor dem ein ausrangierter Tiger-Panzer eingegraben ist. Stille umgibt uns, kein Laut. Man könnte annehmen, die Festung sei ausgestorben, wenn nicht die vielen MPi-Läufe aus den Schießscharten ragen würden. Der Major stößt mich in die Seite – ich soll die Verhandlungen beginnen. Aber wie, mit wem? Kein Mensch lässt sich sehen. Auf einmal entfährt mir ein für diese Situation paradox ziviles ‚Hallo!“
Sofort kommt von oben die Antwort: ‚Was wollen Sie?‘
‚Wir wollen den Festungskommandanten sprechen.‘
Über uns, auf einem Balkon, erscheinen zwei deutsche Offiziere. Da kommt mir ein komischer Gedanke – wie in einer klassischen Shakespeare-Szene.
‚Ich bin der Kommandant! Was wünschen Sie?‘Grischin macht der Shakespeare-Situation ein Ende und fordert von den Offizieren, ‚auf unsere Ebene‘ herabzusteigen. Ich übersetze seine Worte. Es ist fast nicht zu glauben, aber wieder geht es weiter wie bei Shakespeare: Eine Strickleiter wird heruntergelassen und die Offiziere klettern herunter. Zu komisch!“
Dass die Situation gar nichts Komisches hatte, zeigen die ersten Reaktionen: Der deutsche Oberst weist auf den Führerbefehl hin, nach dem jeder zur Kapitulation bereite Offizier auf der Stelle erschossen werden müsse. Ein zähes verbales Ringen beginnt und unter Einsatz ihres Lebens geben sie sich mit den ersten Antworten nicht zufrieden. Nach Stunden der Ungewissheit, in letzter Minute, kapituliert die Zitadellenbesatzung. Die Zivilisten dürfen nach Hause, die Soldaten kommen in Kriegsgefangenschaft. Kein Tropfen Blut wurde vergossen.
40 Jahre danach, also erst 1985, gelang trotz vieler vorheriger Einladungen aus linken und Friedenskreisen endlich ein erster Besuch Galls in West-Berlin und eben auch in Spandau. Wladimir erklärt diese Verzögerung in seiner sehr speziellen, auch humorvollen Art später folgendermaßen: „Ich war, wie es im sowjetischen
Volksmund hieß, invalid am Punkt 5. Der fünfte Punkt auf dem Ausreise-Antragsbogen fragte nach der Nationalität. Und da steht bei mir: Jude…“
Seit 1985 aber war er immer wieder gern gesehener Gast im Bezirk. Eine besondere Freundschaft entwickelte sich zu Gerhard Niemczyk – der Spandauer hatte die Befreiung der Zitadelle „von innen“ erlebt, er war einer von den jungen deutschen Uniformierten, die ohne Munition und militärische Ausbildung dort „auf das Kriegsende warteten“, wie Gerhard später erzählte. Auf Initiative der beiden Bezirksverordneten der Spandauer Linken wurde Wladimir Gall im Mai 2005 mit einem Eintrag ins Goldene Buch Spandaus geehrt. Wie heute war fast die gesamte Politprominenz anwesend. Sein Deutsch war präzise und er erinnerte in sehr klaren Worten an die Situation, die er als 26-Jähriger erlebte. Er sprach weder rührselig noch seicht und er ließ keinen Zweifel daran, im Interesse der Völkerverständigung und des Friedens hier zu sein. Doch beim Wort Befreiung wurde sichtbar, wie einige beim Zuhören den Kopf schüttelten – dieser alte Streitpunkt (Kapitulation oder Befreiung) lebt ja bis heute und ist wohl auch einer der Gründe des Wieder-Erstarkens nationalistischer, revisionistischer Bewegungen europaweit. Wladimir Gall hat Zeit seines Lebens dagegen angekämpft.
Unsere Aufgabe wird es sein, den humanistischen Gedanken Galls in unseren Spandauer Alltag hineinzunehmen und Ähnliches nie wieder zuzulassen.

70 Jahre Befreiung vom Faschismus – Esther Bejerano mit ihrem Sohn Joram und Kutlu Yurtseven der Band Microphone Mafia in Luxemburg Foto: Veranstalter KP Luxemburgs