Viele feiern mit Bratwurst und Spektakel, manche stellen sich den Nazis in den Weg, einige wissen, dass es ohne klare Aussagen niemals gehen wird, um den sich verfestigenden nationalen Wurzeln, die sich inzwischen europäisch vereinen, entgegenzutreten. Solange Menschen dazu gezwungen sind, ihr Land aufgrund von Kriegen um Macht und Rohstoffe zu verlassen, solange politisch Agierende nicht an ihren Taten gemessen und dafür zur Verantwortung gezogen werden, solange die kapitalismus-immanente fortschreitende Verarmung immer größerer Teile der europäischen und weltweiten Bevölkerung fadenscheinig mit Pflastern überdeckt wird, solange ein Mindestlohngesetz in dieser Bundesrepublik dem Mindesten, das ein Mensch für seine Arbeit verdient, NICHT entspricht, solange gilt es, aktiv zu sein, aufzuklären und miteinander für eine andere Welt zu kämpfen.
Genießen wir aber auch die Zeilen eines frühen Aufklärers, denn der Kampf, er währt schon lang:
Zwei alte Leute am 1. Mai
– »Weißt du noch, Alter, vor dem Kriege?
Wir haben manchen Mai erlebt.
Wir glaubten an die schnellen Siege –
du hast das Streikplakat geklebt … «
– »Ja, Alte, das waren schöne Zeiten …
Wir waren allemal dabei –
Ich seh uns noch im Zuge schreiten
am 1. Mai.«
– »Und unser Jüngster war noch klein. Den ließ ich
zu Haus … wir gingen los mit Hans.
Mitunter wars ja etwas spießig –
so … Kriegerverein mit Kaffeekranz.«
– »Na, laß man – du warst doch die Nettste!
Mir wars bloß zu viel Dudelei …
Und anno 14 wars denn auch der letzte –
der 1. Mai.«
– »Kein Wunder. Mußt mal denken, Alter:
Wer ist uns da voraufmarschiert!
Der Wels als roter Fahnenhalter,
der Löbe, prächtig ausstaffiert … «
– »Ja solche haben glatte Hände …
Für die ist frisch, fromm, frech und frei
der Klassenkampf schon längst zu Ende –
Die und der 1. Mai!
Was wissen die vom Klassenkrieg … !
Die schützen sich vor ihrer eigenen Republik –!«
– »Na, laß man, Alter, die Beschwerde.
Ich weiß, dass etwas in uns singt:
Wacht auf, Verdammte dieser Erde,
die stets man noch zum Hungern zwingt!«
– »Wir wissen, Alte, was wir lieben:
den Klassenkampf und die Partei!
Wir sind ja doch die Alten geblieben
am 1. Mai! Am 1. Mai!«
Theobald Tiger (Kurt Tucholsky)
Arbeiter Illustrierte Zeitung, 1930, Nr. 17, S. 329